Sehr geehrte Frau Thelen,

in diesem Jahr soll in Deutschland ein Gesetz mit dem etwas sperrigen Namen „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“ umgesetzt werden.

Was ist der Hintergrund oder der tiefere Sinn des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes (BFSG) und was soll damit bezweckt werden?

K. Thelen: Das BFSG dient der Umsetzung der Europäischen Barrierefreiheitsrichtlinie in deutsches Recht und legt die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen fest. Ziel ist es, die gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Teilhabe von Menschen mit Behinderungen, älteren Menschen und anderen Personen mit Einschränkungen am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben zu fördern. Durch das Festlegen einheitlicher Barrierefreiheitsanforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen sollen digitale und physische Barrieren im Sinne einer inklusiven Gesellschaft abgebaut werden.

Mit dem Gesetz werden erstmals private Wirtschaftsakteure zur Barrierefreiheit verpflichtet, sofern ihre Produkte oder Dienstleistungen unter den Anwendungsbereich fallen.

Was regelt das neue Gesetz und wen betrifft es?

K. Thelen: Das BFSG legt verbindliche Barrierefreiheitsanforderungen für bestimmte Produkte und Dienstleistungen fest, die private Marktakteure für Verbraucher anbieten (B2C). Betroffen sind insbesondere: ​

  • Hersteller, Händler und Importeure bestimmter Produkte, wie z. B. Computer, Tablets, Mobiltelefone, E-Book-Lesegeräte, Geld- und Fahrkartenautomaten. ​
  • Dienstleistungserbringer, die digitale Dienstleistungen wie z. B. Bankdienstleistungen oder Telekommunikationsdienste für Verbraucher bereitstellen sowie Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr mit Verbrauchern (z.B. E-Commerce, Online-Terminbuchungs-Tools). Dazu gehören auch Webshops und Apps.

Diese Akteure müssen sicherstellen, dass ihre Produkte und Dienstleistungen den festgelegten Barrierefreiheitsanforderungen entsprechen. Alle Produkte und Dienstleistungen, die in den Anwendungsbereich fallen, sind in § 1 Absatz 2 und 3 BFSG genannt. Die Aufzählung ist abschließend – wenn ein Wirtschaftsakteur dort sein Produkt oder seine Dienstleistung nicht findet, muss er die Anforderungen des BFSG nicht beachten.

Aber auch wenn keine gesetzliche Pflicht vorliegt, lohnt ein Blick auf die Barrierefreiheit des eigenen Angebots. Im Sinne der Inklusion ist der Abbau von Barrieren immer wünschenswert und oft helfen schon kleine Anpassungen.

Müssen jetzt alle Unternehmen ihre Website barrierefrei gestalten? Welche Unternehmen sind betroffen und welche nicht?

K.Thelen: Nicht alle Unternehmen sind verpflichtet, ihre Websites barrierefrei zu gestalten. Die Verpflichtung zur Barrierefreiheit gilt für Unternehmen, die digitale Dienstleistungen für Verbraucher anbieten, wie z. B. Online-Shops oder Banking-Plattformen.

Kleinstunternehmen, die weniger als zehn Personen beschäftigen und einen Jahresumsatz oder eine Jahresbilanzsumme von höchstens 2 Mio. Euro haben, sind von den Anforderungen des BFSG ausgenommen, sofern sie Dienstleistungen erbringen. Für Kleinstunternehmen, die Produkte herstellen, importieren oder vertreiben, gelten die Anforderungen jedoch ebenfalls.

Wann tritt das BFSG in Kraft? Und gibt es eventuell Ausnahmeregelungen?

K.Thelen: Das BFSG tritt am 28.06.2025 in Kraft. Für bestimmte bestehende Produkte und Dienstleistungen gibt es Übergangsregelungen. Beispielsweise dürfen Dienstleistungen bis zum 27.06.2030 weiterhin mit Produkten erbracht werden, die bereits vor dem 28.06.2025 rechtmäßig zur Erbringung dieser oder ähnlicher Dienstleistungen genutzt wurden.

Zudem sieht das Gesetz eine Verhältnismäßigkeitsprüfung vor: Stellt die Umsetzung der Anforderungen eine unverhältnismäßige Belastung dar, kann im Einzelfall eine Ausnahme greifen – das muss jedoch gut begründet und dokumentiert sein.

Was droht Unternehmen, die sich nicht an die Vorgaben halten?

K.Thelen: Unternehmen, die gegen das BFSG verstoßen, müssen mit aufsichtsrechtlichen Maßnahmen rechnen. Dazu gehören Anordnungen der Marktüberwachungsbehörden, im Extremfall auch Rücknahmen von Produkten oder Untersagungen von Dienstleistungen. Insbesondere bei vorsätzlichem oder fahrlässigem Handeln können auch Bußgelder von bis zu 100.000 Euro verhängt werden.

 

Vielen Dank für das Interview.